Übersäuerung - ein moderner Mythos?

Dr. phil. Kerstin Engels

Die These von der latenten Übersäuerung ist schon recht alt. Sie wird von vielen Alternativmedizinern vertreten und ist in der Schulmedizin nicht anerkannt. Die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich nimmt aber zu.

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Aus Sicht der Schulmedizin gehörte die Vorstellung einer weit verbreiteten verdeckten Übersäuerung – medizinisch: latente Azidose –  lange Zeit in die Kategorie der modernen Mythen.

Die These, dass viele gesundheitliche Probleme mit einer ernährungsbedingten Übersäuerung zusammenhängen, entstand bereits um 1920. Zwar arbeiten schon seit Jahrzehnten viele Naturheilkundler auf dieser Grundlage, aber aus schulmedizinisch-wissenschaftlicher Sicht gab es keine Belege dafür.

Nun ist das Thema zwar nach wie vor umstritten, aber inzwischen mehren sich wissenschaftliche Forschungsarbeiten und Studienergebnisse, die die These stützen. 

Unstrittig sind die biochemischen Grundlagen der vermuteten Übersäuerung. So ist der Organismus darauf angewiesen, eine ständige Balance zwischen sauren und basischen Stoffen aufrechtzuerhalten. Beide agieren als Gegenspieler zum anderen, beide braucht der Körper für verschiedene Vorgänge.

Der Säure-Basen-Haushalt

Säuren sind chemische Verbindungen, die positiv geladene Wasserstoffatome (Protonen) enthalten und abgeben können. Basen sind das Gegenstück, sie neutralisieren Säuren und können Protonen binden. Der Säuregrad in einer Flüssigkeit wird durch den pH-Wert bestimmt. Neutral ist ein pH-Wert von 7,0. Niedrigere Werte sind sauer, höhere Werte basisch.

Der menschliche Organismus braucht zum Leben in den meisten Bereichen ein neutrales oder leicht basisches Milieu. Beispielsweise liegen die pH-Werte im Darm um 8,0, im Speichel um 7,0. Zu den wenigen sauren Bereichen gehört der Magen, wo die Salzsäure Eiweiß aufspaltet und Bakterien vernichtet. Schutz bietet die Säure auch auf der Haut, um Keime abzuwehren.

Der pH-Wert im Blut liegt in einem schmalen basischen Bereich zwischen pH 7,35 und pH 7,45. Über- oder unterhalb dieses Bereichs funktioniert der Stoffwechsel nicht mehr richtig. Schwach basisch sind auch die Flüssigkeiten in den Zellen und in den Räumen zwischen den Zellen. Der pH-Wert dort liegt zwischen 7,0 und 7,4. Im Harn schwankt der pH-Wert im Laufe des Tages zwischen basisch und sauer.

Der Säure-Basen-Haushalt, so viel ist klar, beeinflusst viele wichtige Vorgänge im Körper. Der Aufbau von Proteinen, die im Stoffwechsel benötigt werden, hängt davon ab, ebenso die Durchlässigkeit von Zellwänden, die Verteilung von Elektrolyten und die Funktion des Bindegewebes.

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Damit Blut, Organe und Gewebeflüssigkeiten die Säure-Basen-Balance in dem schmalen Bereich aufrechterhalten können, gibt es verschiedene biochemische Schutzmechanismen, sogenannte Puffer. Die Puffersysteme neutralisieren überschüssige Säuren und Basen.

Unter anderem bindet der Puffer Bikarbonat die aus den Säuren stammenden freien Wasserstoffatome. Diese Verbindung zerfällt dann in Wasser und Kohlendioxid. Das Wasser wird über die Niere ausgeschieden, das Kohlendioxid ausgeatmet. Auch die Leber verstoffwechselt Säuren, die dann über die Nieren ausgeschieden werden.

Zu den Puffern zählen außerdem die Basenspeicher der Knochen, nämlich das angelagerte Bikarbonat sowie die in den Knochen enthaltenen Mineralstoffe Kalzium und Phosphat. Zu den zentralen Annahmen der Übersäuerungstheorie gehört zudem, dass überschüssige Säuren in den Bindegeweben abgelagert werden – und die Strukturen so auf Dauer schädigen.

Gesundheitliche Folgen der Übersäuerung

Die latente Übersäuerung ist nicht zu verwechseln mit einer akuten Azidose. Im akuten Fall ist der pH-Wert im Blut gefährlich verschoben. Der Gesundheitszustand ist dann kritisch und sofort behandlungsbedürftig ist. Er kann als Folge bedrohlicher Erkrankungen auftreten, etwa bei Nierenversagen oder schwerer Diabetes.

Mit der latenten Übersäuerung ist etwas anderes gemeint: Dabei geht es um einen chronischen und verdeckten Zustand ohne unmittelbare Krankheitssymptome. Das Konzept geht davon aus, dass der Organismus ständig mit einer übermäßig säurebildenden Ernährung und Lebensweise belastet ist, weil er dafür sorgen muss, die Grenzen der Säure-Basen-Balance nicht zu überschreiten.

Osteoporose

Bei einer übermäßigen Beanspruchung der Puffersysteme durch säurebildende Lebensmittel und Stress greift der Körper – so die Annahme – zunehmend auf Pufferreserven zurück. Als einer der möglichen Effekte gilt der Abbau von Knochensubstanz. Aus diesem Grund sehen viele Alternativmediziner die chronische Übersäuerung als einen Faktor bei der Entstehung einer Osteoporose.

Bindegewebe und Gelenkschäden

Das zweite große Thema bei den Gesundheitsproblemen durch Übersäuerung ist das Bindegewebe. Schwaches Bindegewebe ist für viele Frauen zunächst deshalb ein ärgerliches Thema, weil es äußerlich als Cellulite erkennbar ist. Die latente Übersäuerung wird dafür verantwortlich gemacht, dass die sogenannte Bindegewebsmatrix an Elastizität einbüßt. Überschüssige Säuren schiebt der Organismus demnach in das Bindegewebe und die Zellzwischenräume ab. Doch die vermuteten Folgen sind noch weitaus unerfreulicher als das ästhetische Cellulite-Problem.

Die Ablagerung überschüssiger Säuren im Bindegewebe behindert nach Auffassung der Säure-Basen-Therapeuten vor allem die Diffusion von Nährstoffen, Sauerstoff oder Enzymen zu den Zellen und verursacht dadurch Mangelerscheinungen und langfristig chronische Krankheiten. Die Beeinträchtigungen des Bindegewebes führten außerdem zu einer Anfälligkeit für Knorpel- und Gelenkschäden sowie zu steigenden Verletzungsrisiken an Sehnen und Bändern. Die Säure-Basen-Medizin empfiehlt deshalb insbesondere auch Sportlern eine basenreiche Ernährung.

Entzündungen und Allergien

Zu den Folgen der latenten Übersäuerung rechnen Alternativmediziner außerdem eine Reizung des vegetativen Nervensystems, genauer: die Stimulierung des Sympathikus. Die damit verbundenen Erregungszustände begünstigen wiederum Entzündungsprozesse im Körper sowie eine übermäßige Aktivität des Immunsystems, was als ein Mitauslöser für Allergien betrachtet wird.

Von Gicht bis Leistungsabfall

Viele weitere Erkrankungen werden mit latenter Übersäuerung in Zusammenhang gebracht. Die Liste ist lang. Gicht durch Ablagerungen in den Gelenken und Nierensteine gehören ebenso dazu wie Rheuma, Migräne, Schlaganfall oder Herzinfarkt. Auch vorzeitige Alterserscheinungen wie Falten, außerdem Müdigkeit, Infektanfälligkeit und Abfall der Leistungsfähigkeit sollen mit auf das Konto einer latenten Übersäuerung gehen.

Kritik an der Übersäuerungstheorie

Einerseits sind Therapien und Ernährungsempfehlungen vor dem Hintergrund der Säure-Basen-Theorie gängige Praxis. Auch die Fülle an Ratgeberliteratur ist beachtlich.

Andererseits gilt die Theorie aus Sicht der Schulmedizin oft als Hokuspokus oder - schlimmer - als reines Marketinginstrument für den Verkauf von Basenpulvern und Mineralstoff-Tabletten. Die These von der latenten Übersäuerung als Krankheitsursache betrachten die Kritiker als falsch oder zumindest nicht belegt. Sie halten dem entgegen, der menschliche Organismus verfüge über ein ausreichendes Puffersystem.

Denn schulmedizinisch gesehen gibt es keine latente Übersäuerung, weil sie nicht sichtbar ist. Da der Körper nur sehr geringe Schwankungen im Blut toleriert, so das Argument, würden überschüssige Säuren einfach ausgeschieden. Beobachtet wird also bislang, dass es der Organismus im Normalfall immer schafft, den pH-Wert innerhalb dieser Grenzen zu halten.

Dass bei einer dauerhaft höheren Säurebelastung beispielsweise das Bindegewebe durch Ablagerungen belastet wird, bleibt derzeit eine nicht belegte Hypothese. Da sich die wissenschaftliche Forschung diesem Thema aber zunehmend widmet, mag sich das womöglich noch ändern.

 

Hier mehr zum Thema basische Ernährung auf medelia.de

 

Literatur und Links:

Friedrich F. Sander: Der Säure-Basenhaushalt des menschlichen Organismus und sein Zusammenspiel mit dem Kochsalzkreislauf und Lebensrhythmus. 2. Aufl. Stuttgart 1999 (Erstauflage: 1953)

John van Limburg Stirum: Moderne Säure-Basen-Medizin. Physiologie, Diagnostik, Therapie. Stuttgart 2008

Michael Worlitschek: Die Praxis des Säure-Basen-Haushalts: Grundlagen und Therapie. 6. Aufl. Heidelberg 2008 

http://www.saeure-basen-forum.de/ - Informationen aus ernährungswissenschaftlicher Sicht mit neueren Studien

http://www.apotheken.de/gesundheit-heute-news/article/fuenf-ernaehrungsmythen/ - Beispiel für die typische Einordnung der Übersäuerungstheorie als moderner Mythos

 

 

 

 

 

Bildnachweise: kh/pixabay