Inititation für Jugendliche scheint in aufgeklärten westlichen Gesellschaften ein eher abseitiges Thema zu sein. Zu Unrecht, findet Peter Maier, selbst Gymnasiallehrer, Initiations-Mentor und Autor. Bei medelia.de schildert er in einem sehr persönlichen Beitrag die Hintergründe und Erfahrungen mit Ritualen, die den bewussten Übergang in eine neue Lebensphase erleichtern sollen. In sehr berührenden Geschichten wird das kraftvolle und häufig lebensverändernde Potenzial solcher Begegnungen mit sich selbst deutlich – ein Plädoyer, die Bewusstseinsentwicklung hin zum Erwachsenwerden mit Hilfe alter Rituale aktiv zu gestalten.
Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft
Von Peter Maier
August 2007. Ich steige mit Rucksack, Schlafsack und Regenplane wieder von dem Berghang in 1800 Metern Höhe herab, wo ich die vergangenen vier Tage und vier Nächte alleine, ohne Essen, ohne Zelt, ohne Handy und ohne jeden Kontakt zu anderen Menschen unter einer alten Fichte zugebracht habe. Mit dabei hatte ich nur Schlafsack, Matte, Regenplane, Rucksack und 15 Liter Wasser. Ich war in dieser Zeit ohne Behausung dem rauhen Bergklima unmittelbar und ganz elementar ausgesetzt.
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Ich komme gerade aus einer anderen Welt - aus der Welt der Natur mit all ihren Wesenheiten: mit den Pflanzen und Bäumen, mit den Wildtieren und mit den bizarren Bergformationen der Alpenlandschaft. Drei Tage und drei Nächte lang hat es in dieser sogenannten „Solozeit“ geregnet, am vierten Tag herrschte zudem ein richtiger Sturm. Erst jetzt am frühen Morgen des fünften Tages scheint endlich wieder die Sonne. Nun geht es zurück zur zwei Kilometer entfernten, tiefer liegenden Almhütte, die als Basislager dient.
Ich habe am 12-tägigen Naturritual der „Visionssuche“ teilgenommen, das den Sinn hat, einmal total vom Alltag abzuschalten, sich mit sich selbst und mit seinem tiefsten Inneren - ungestört und unabgelenkt - zu konfrontieren, innerlich nachzureifen und neue Ideen und Visionen für sein Leben zu finden.
Vier Tage lang wurde ich zunächst in der zehnköpfigen Teilnehmer-Gruppe von zwei Ritualleitern intensiv vorbereitet, die während der Solozeit am Basislager die Stellung hielten und nun alle Teilnehmer wieder in einer würdevollen Zeremonie empfangen. Während der folgenden vier Tage hören wir die Erlebnisse und Geschichten von uns Teilnehmern aus der Zeit „allein da draußen in der Wildnis“ einzeln im Ritualkreis und bereiten die anschließende Heimkehr in unsere Familien vor.
Traditionelle Völker wussten Bescheid
Das Ritual der Visionssuche, auch „Vision Quest“ genannt, wurde bereits vor etwa 40 Jahren von dem nordamerikanischen Ehepaar Steven Foster und Meredith Little entwickelt. Sie waren als Ethnologen, Psychologen und Sozialarbeiter in den Reservaten von einigen Indianerstämmen tätig.
Sie beobachteten, dass sowohl Jugendliche als auch Erwachsene von Zeit zu Zeit für einige Tage allein im Wald verschwanden. Wenn diese dann wieder aus ihrer Auszeit zurückkehrten, schienen sie sehr verändert und wurden von der Stammesgemeinschaft mit einem großen Fest empfangen und gewürdigt.
Foster und Little übernahmen von den Indianern den Grundgedanken und schufen daraus das Ritual der Visionssuche, das für unsere heutige westliche Zivilisation sehr geeignet erscheint. Die Visionssuche für Erwachsene bietet eine besondere Gelegenheit zur Neuorientierung und Sinnsuche im Leben. Sie kann in jedem Alter absolviert werden.
Die spezielle Jugend-Visionssuche dient als Initiationsritual dazu, den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu meistern. Der Begriff „Initiation“ bezeichnet dabei den Eintritt in die neue Lebensphase des Erwachsenseins.
Die Erfahrung in den vergangenen 20 Jahren hat gezeigt, dass es in unserer heutigen, naturwissenschaftlich-technologisch ausgerichteten Gesellschaft viele Menschen gibt, die zwar längst volljährig, aber nie wirklich erwachsen geworden sind. Ihnen kann dieses Ritual der Visionssuche enorm zur Nachreifung ihrer Persönlichkeit und zur nachträglichen bewussten Initiation, das heißt beim Übergang ins Erwachsensein, helfen.
Damit das Ritual seine volle Wirkung entfalten kann, werden während der Solozeit alle ablenkenden Faktoren, die man sonst im Alltag ganz selbstverständlich zur Verfügung hat, für vier Tage und Nächte beseitigt: kein Essen, nur Wasser; keine Behausung, nur ein Schlafsack und eine Schutzplane gegen Regen; keinen Kontakt zu Menschen – weder physisch noch durch Kommunikationsmittel.
Dafür bietet aber Mutter Natur eine ungeahnte neue Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeit, wenn man sich nur darauf einlässt. Auch ein Tagebuch kann in der Solozeit zu einem guten "Gesprächspartner aus dem eigenen Inneren" werden.
Dieses Visionssuche-Ritual, von Indianern beeinflusst, hat auch in Europa alte Wurzeln. Unsere Märchen und Mythen enthalten oft den Archetypus der „Heldenreise“. Viele haben eine ähnliche Struktur: Jemand verlässt seine bisherige Gemeinschaft und bricht allein zu einer unbekannten Reise auf: in ferne Länder oder in undurchdringliche Waldgebiete.
Dabei macht der Held, ganz auf sich allein gestellt, vielfältige Erfahrungen. Er erlebt gute, ihn überraschend unterstützende Kräfte, er bekommt aber auch Kontakt mit gefährlichen Kräften, Geistern oder Mächten.
Alles läuft schließlich auf einen Heldenkampf hinaus, dem sich der Protagonist stellen muss. Er muss mit einem Drachen, einem Untier oder einem bösen Zauberer kämpfen, um einen Schatz oder den Gral zu bekommen oder um eine Prinzessin aus den Fängen einer Hexe zu befreien.
Mit all diesen Erfahrungen verlässt der Held schließlich die „Anderswelt“ und kehrt wieder zurück zu seiner ursprünglichen Gemeinschaft – verändert und gereift. Er bringt etwas mit, um damit seine bisherige Gemeinschaft zu befruchten und anzuregen: eine Person, einen Schatz oder „nur“ den Gral der Erkenntnis. Damit enthalten solche Heldengeschichten genau das Muster, die Matrix, wie auch heute Jugendliche erwachsen werden können.
Jugendliche brauchen Übergangsrituale
Für mich selbst bedeutete diese dritte Visionsuche in den Österreichischen Alpen, der ich mich mit 53 Jahren unterzog, eine Initialzündung für mein weiteres Leben:
Ich lernte bald darauf meine Frau kennen, schrieb meine ersten beiden Bücher über „Initiation“ und beschloss schon beim Herabgehen vom Berg am Ende der Solozeit, dass ich sofort nach meiner Rückkehr etwas für die Jugendlichen tun würde.
Ich wollte ein ähnliches, altersgerechtes Ritual auch für meine Schüler und Schülerinnen anbieten, um ihnen als Mentor dabei zu helfen, selbständiger und selbstverantwortlicher zu werden und den Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsensein besser zu bewältigen. Denn gerade als Pädagoge musste ich feststellen, dass in unserer Gesellschaft und auch in unserem Schulsystem die so entscheidende und existentielle Initiationsfrage meist gar nicht richtig behandelt wird.
Seit 2008 führe ich mit einer Co-Leiterin jeden Sommer für 16- bis 18-jährige Jugendliche das naturpädagogische Ritual des „WalkAway“ in einem Wald bei Augsburg durch. Übersetzen würde ich diese Zeremonie mit „Gehe deinen Weg zu Dir selbst – in das Innere deines Herzens!“
Der WalkAway ist eine Kurzform der Visionssuche und dauert nur vier Tage. Nach einer zweitägigen Vorbereitung in der Gruppe wird jeder Jugendliche für einen Tag und eine Nacht lang zur 24-stündigen „Solozeit“ ohne Essen, ohne Zelt und ohne Smartphone ganz alleine in den Wald geschickt – Herausforderung genug für die jungen Initianden. Sie gelten in dieser Zeit als vollkommen unsichtbar, haben keinen Kontakt zu anderen Menschen und werden gleichsam von der Wildnis verschluckt.
WalkAway 2014
Anfang August 2014 haben sich vier Mädchen und sechs Jungen für das WalkAway-Ritual entschieden. Alle konnten allein in den Wald hinausgeschickt werden und nun warten am Morgen des vierten Tages bereits um 7.30 Uhr ihre Eltern vorm Wald. Sie sind teilweise bereits in der Nacht angereist oder haben in einer nahegelegenen Pension übernachtet und dabei womöglich mehr Ängste ausgestanden als die Jugendlichen selbst.
Es ist ein sehr ergreifender Moment, wenn die jungen Frauen und Männer nun von uns Leitern aus dem Wald herausgetrommelt und in einem Steinkreis auf der Wiese in einer feierlichen Begrüßungszeremonie ganz offiziell wieder „sichtbar“ gemacht werden.
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Sie waren mit sich selbst konfrontiert, haben besonders in der Nacht Ängste und Alleinsein ausgehalten und einen kraftvollen Schritt hin zu mehr Selbständigkeit und ins Erwachsenwerden gemacht. Für einige Stunden kann man eine Stecknadel fallen hören, so intensiv und berührend sind diese WalkAway-Geschichten der Teilnehmer.
Nach jeder Erzählung ergreifen auch die Eltern das Wort, um ihre Söhne und Töchter vor allen Anwesenden zu würdigen und ihren großen Schritt hin zum Erwachsensein zu bestätigen. Für viele Teilnehmer ist gerade dieser Teil des WalkAway enorm wichtig: Endlich können ihre Eltern erkennen, wie kraftvoll und mutig sie sind. Einige Mütter und Väter müssen weinen, weil sie von den ehrlichen Geschichten und von dem Schritt ihrer „Kinder“ so ergriffen sind, die soeben mit der ausdrücklichen Zustimmung ihrer Eltern dabei sind, ein für alle Mal ihre Kinderrolle abzuwerfen.
Darum spielt bei den Indianern Nordamerikas die Schlange als Symboltier der Jugend-Initiation eine so große Rolle: So wie die Schlange von Zeit zu Zeit ihre alte Haut abwirft, streifen auch viele Jugendliche bei WalkAway und Jugend-Visionssuche ihre alte „Kinderhaut“ ab, um anschließend in die neue „Erwachsenenhaut“ hineinwachsen können.
Nachdem alle WalkAway-Geschichten erzählt und gewürdigt sind, geht die Veranstaltung mit einem feierlichen und fröhlichen Essen zu Ende, das die Eltern von zu Hause mitgebracht haben. Mir als Ritualleiter und Initiations-Mentor bleibt nur noch die Aufgabe, allen jungen Frauen und Männern meine Hochachtung und meinen großen Respekt zu bekunden, die einen solch fundamentalen Schritt hinein in ihr Erwachsensein gewagt haben.
Ergreifende WalkAway-Geschichten
Der 17-jährige Markus (alle Namen geändert) litt an einer Angstphobie in der Dunkelheit, die bisher sein ganzes Leben bestimmt und ihn in seiner Entwicklung blockierte hatte. Hier sein Bericht sechs Wochen nach dem WalkAway:
„Während der Solozeit vergrub ich mich bei einbrechender Dunkelheit in meinem Schlafsack. Würde die Panik wieder kommen? Etwa um 3.00 Uhr nachts sprang ich plötzlich aus dem Schlafsack und begann, über eine Stunde lang durch den Wald zu laufen. Dabei fielen meine Angstdämonen immer mehr von mir ab.
Als ich am Morgen aus dem Wald kam, war alle Panik verschwunden. Bis jetzt sind auch keine Angstzustände in der Dunkelheit mehr aufgetreten, so dass ich mich am Abend viel freier fühlen kann. Ich habe meine Angst beim WalkAway besiegt.“
Die 17-jährige Maria hatte auch am Tag Angst, als Mädchen allein im Wald zu sein. Schon am Tag vor der Solozeit bekam sie eine Panikattacke, als sie sich bei einer Naturaufgabe im Wald verirrt hatte.
Wir Leiter rieten ihr dann, nur etwa 100 Meter von uns entfernt die Nacht in ihrem Schlafsack zu verbringen – natürlich „unsichtbar“ für uns. Hier ihr Bericht sechs Wochen später:
„Der WalkAway ist jetzt bereits über sechs Wochen her, aber ich erinnere mich so oft daran. Ich denke an all die wundervollen Menschen, die ich dabei kennengelernt habe. Und jedes Mal schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, wenn ich an die Solozeit denke. Ich habe gelacht, geweint, mich gefreut, mich gefeiert, war stolz, verzweifelt, nahe am Aufgeben und trotzdem stark genug, um weiter zu machen. Und all diese Gefühle hatte ich selten in dieser Intensität und Geballtheit in meinem ganzen bisherigen Leben.
Der WalkAway hat mir gezeigt: Ich bin etwas wert und kann die Dinge, die ich mir vornehme, auch durchziehen. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar. Der WalkAway war für mich ein Gesamterlebnis, das ich auch im Rückblick nicht missen möchte. Ich kann nur jedem Menschen auf der Welt ans Herz legen, dieses oder ein ähnliches Ritual zu machen, es ist magisch...“
Und hier noch der Bericht einer Großmutter aus Thüringen, die ihren Enkel, einen 16-jährigen Jungen, seelisch während des WalkAway begleitet und dann an der Schlusszeremonie teilgenommen hat:
„Am letzten Tag konnten wir Angehörigen miterleben, wie die Jugendlichen nach der 24-stündigen Solozeit aus dem Wald kamen. Sie sahen stolz, freudig, etwas erschöpft, aber glücklich aus. Alle haben es geschafft und jeder hatte seine eigene, ganz persönliche Auseinandersetzung mit sich und der Natur. Die Jugendlichen haben Mut und Durchhaltevermögen bewiesen und ihre eigenen inneren Stärken und Schwächen erkannt. Ich vergesse die leuchtenden Augen meines Enkels nicht, die sagten: Hey, ich hab es geschafft!“
Quellen und Links
Adresse für WalkAway: Peter Maier, www.initiation-erwachsenwerden.de, (Rubrik „WalkAway“)
Adresse mit den meisten Anbietern für Visionssuchen für Erwachsene und für Jugend-Visionssuchen/WalkAways für Jugendliche im deutschsprachigen Raum: www.visionssuche.net. Dort findet sich eine Liste der VisionssucheleiterInnen des Netzwerks, nach Postleitzahlen geordnet.
Weiterführende Literatur
Steven Foster, Meredith Little: Visionssuche (Arun-Verlag)
Sylvia Koch-Weser, Geseko von Lübke: Vision Quest (Drachen-Verlag)
Bücher zum Thema von Peter Maier
„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“
ISBN 978-3-86991-404-6; MV-Verlag Münster 2011;16,50 €, 329 Seiten
„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“
ISBN 978-3-86991-409-1; MV-Verlag Münster 2011; 16,80 €, 339 Seiten
„Heilung – Initiation ins Göttliche“ ISBN 978-3-95645-313-7; MV-Verlag Münster 2014; 17,50 €, 317 Seiten
Weitere Infos und Buchbezug: www.initiation-erwachsenwerden.de
Über den Autor
Peter Maier wurde 1954 in einer kleinen Gemeinde in Ostbayern geboren. Er besuchte das Gymnasium, absolvierte die Bundeswehr als Sanitäter und studierte anschließend das Lehramt für Gymnasien.
Vor Beginn des Referendariats unterrichtete er 1981 für ein halbes Jahr an einer Secondary School in Kenia. Seit Herbst 1981 ist er als Lehrer an Gymnasien in Bayern tätig. Er hat einen erwachsenen Sohn.
Neben dem Staatsexamen hat der Autor mehrere Zusatzausbildungen abgeschlossen: zum Gruppenleiter in Themenzentrierter Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn, zum Supervisor an einem Institut, das nach dem Standard der DGSV ausbildet und zum Initiations-Mentor in der Tradition der amerikanischen „School of lost Borders“.
Langjährige Fortbildungen in Gruppendynamik, initiatischer Therapie und christlicher Kontemplation. Selbsterfahrung mit Visionssuchen, Familienaufstellungen, in der Männer- und Ritualarbeit und mit vielfältigen alternativen Heilmethoden.
Seit 2008 führt der Autor mit Jugendlichen alljährlich das naturpädagogische Initiations-Ritual des WalkAway durch. Er möchte Begleiter für Jugendliche bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden sein.
Durch seine Bücher über Initiation, durch Vorträge, sowie durch eine Reihe von Artikeln in pädagogischen Fachmagazinen und in spirituell ausgerichteten Zeitschriften möchte der Autor das uralte, erprobte und zugleich höchst aktuelle und innovative Wissen um Jugend-Initiation weitergeben.
Nicht zuletzt durch seinen eigenen, lebenslangen spirituellen Weg ist der Autor zu der Überzeugung gelangt, dass ein jeder von uns den göttlichen Funken in sich trägt und eine tiefe Sehnsucht nach dem Göttlichen hat.
Bilder
(1) In dem Steinkreis werden die Inititanden verabschiedet und dann wieder begrüßt.
(2) WalkAway-Gruppe auf dem Weg zum Wald
(3) WalkAway-Gruppe vor dem Wald (in den zwei Tagen der Vorbereitung)
(4) Nachts allein im Wald während der Solozeit
Sämtliche Bildrechte in diesem Artikel (c) Peter Maier